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Zuhause im Unbezahlbarland

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Sonderzeitung des Landkreis Görlitz Erscheinungsdatum: April 2019

10 | Tom Hockauf

10 | Tom Hockauf Zuhause im Unbezahlbarland | April 2019 Zuhause im Unbezahlbarland | April 2019 Zuhause im Unbezahlbarland | April 2019 Thomas Scholz | 11 Verlässliche Verbindungen Dem Ruf nach Görlitz gefolgt: Küchenchef Tom Hockauf Ein Hipstar am Herd Mitte Februar. Ein paar schmutziggraue Schneereste gammeln noch am Straßenrand rum. Den ersten Sonnenstrahlen des Jahres aber können die Menschen nicht widerstehen. Sämtliche Bänke um den Görlitzer Wilhelmsplatz sind besetzt, Jacken und Mäntel offen, die Hälse zum Himmel gereckt. Tom Hockauf blinzelt erschrocken, als er aus seinem Lokal auf die Straße tritt und nestelt eilig eine Sonnenbrille aus dem Rucksack. Urban Style. Coolnessfaktor 8 von 10. Ein Eiscafé in der Innenstadt schlägt er vor für das Gespräch. „Die haben super schlechten Kaffee, aber man kann so schön fremde Leute beobachten.“ Ob er nicht gerade genug Leute direkt vor der Nase gehabt hätte, frage ich ihn, zur Stoßzeit im voll besetzten „Jakobs Söhne“. „Das sind keine Fremden, für die ich koche. Das ist alles Familie.“ Wir einigen uns, dass schlechter Kaffee keine gute Idee ist und ein Spaziergang dem feinen Wetter angemessen. „Was habt ihr heute verkauft?“ „Die vegetarische Soljanka ging super. Alle Pastavariationen. Pasta läuft immer. Und Thai-Curry.“ Im Schnitt 60, in der Spitze 80 Portionen reichen Tom und seine Leute jeden Mittag über den Tresen und lassen sich dabei ganz genau auf die Finger gucken. Front-Cooking, direkt vor den Gästen, da braucht es schon ein gesundes Selbstbewusstsein. Tom grinst und nickt. „Das haben wir.“ 1988 wird er in Zittau geboren. Mit einem in der Region bekannten Familiennamen. Frieda Hockauf, seine Urgroßtante, Weberin aus einfachsten Verhältnissen, war von der SED medienwirksam inszenierte Planübererfüllerin und staatlich ausgezeichneter Held der Arbeit. Tom wächst auf dem Dorf auf, spielt wie alle seine Kumpels Fußball. Tiere, die Natur, Pflanzen, die man bedenkenlos pflückt und essen kann, sind für ihn eine Selbstverständlichkeit. Und ganz früh, wird ihm seine Mutter später erzählen, quengelt er in der Küche rum, weil er mitmachen will. Als der Vater die Familie Richtung München verlässt und die Mutter Vollzeit arbeitet, gehen die Schulnoten in den Keller. „Keiner hat auf mich aufgepasst. Das Busgeld hab ich für Videospiele ausgegeben.“ Mit Ach und Krach schafft er ein Dreier-Abitur, geht zur Armee und muss schlagartig lernen, mit der strengen Hierarchie zurecht zu kommen. Was ihm erstaunlich gut gelingt. Seine Mutter arbeitet inzwischen in der Schweiz und erzählt ihm, als der Wehrdient vorbei ist, von einer privaten Hotelfachschule mit exzellentem Ruf in Luzern. Nach einem Besuch ist Tom so begeistert, dass ihn auch die Aussicht auf 7.000 Euro Schulgeld pro Semester nicht schreckt. Er sucht sich sofort eine Stelle in der Gastronomie, fängt als Praktikant an, wird nach wenigen Wochen als so begabt angesehen, dass er selbständig auf einem Posten arbeiten darf. Als das Haus kurz darauf vom Restaurantführer Gault Millaut als Aufsteiger des Jahres ausgezeichnet wird, feiert der Neue in der Küche mit dem ganzen Team. „Sowas vergisst Du nicht.“ In der Schule läuft es anfangs fantastisch. Die Regeln sind streng. Täglich rasieren. Anzugspflicht. Tom gibt das Halt und fachlich ist er weit vorn. Er wohnt auf 12 Quadratmetern im Keller, ein Besuch beim Friseur frisst sein halbes Monatsgeld. Nach dem ersten Semester geht er zum Praktikum in das Hotel Schwanen am Zürichsee. Bei gutem Wetter spülen die Ausflugsboote mittags hunderte hungriger Gäste an. 90 Bestellungen gleichzeitig auf der Bonleiste zu haben, ist keine Seltenheit. „Du musst unglaublich präzise und schnell sein, um da nicht abzusaufen.“ Er säuft nicht ab und verlängert sogar um ein halbes Jahr. Das nächste Semester auf der Schule ist nicht seins. Schwerpunkt Service. Nach einer Woche Theorie der erste Einsatz bei einem Prominenten-Ball im Hotel Dolder Grand Zürich. An seinem Tisch sitzt der Motorsport-Millionär Peter Sauber. Der 22jährige schenkt Weine ein, die er sich in zehn Jahren nicht wird leisten können. Egal. Zähne zusammenbeißen und durch. Er sucht sich eine weitere Kochstelle, schafft es, in einer Sterneküche angenommen zu werden. Zur Schule will Tom nicht zurück. Aber in die alte Heimat. Der Liebe wegen. Als er hier in einem eher bodenständigen Lokal anheuert, kommt er sich vor wie ein arroganter Fatzke. Vom Schweizer Sternehimmel in die raue Zittauer Wirklichkeit. Und wieder hält er durch. Zwei Jahre lang kloppen sie im Akkord Schnitzel, Würste und Kartoffelsalat raus. Dann kommt der Ruf nach Görlitz. Die Liebe ist inzwischen erloschen, er ist frei und nimmt die Stelle als Alleinkoch in einem Feinkostladen an. Endlich sein eigener Herr. Als die Inhaber nach nicht mal einem Jahr aufgeben, bleibt er einfach da und wird im neuen Lokal „Jakobs Söhne“ Küchenchef einer kleinen internationalen Brigade. Alles Weltenbummler, alle mit herrlich verrückten Biographien und alle stolz auf ihre Arbeit. „Wir sind komplett authentisch. Wir lächeln nicht freundlich, wenn ein Gast unhöflich ist. Wer keinen Respekt vor dem hat, was wir machen, soll draußen bleiben.“ Er sei, sagt Tom Hockauf, nicht arrogant. Er sei realistisch. „Wenn uns was besonders gut gelingt, feiern wir uns. Wenn was nicht klappt, sind wir am Boden. So sieht’s aus.“ Ist er angekommen? Wird er bleiben? Der blonde Strubbelkopf weiß es nicht. Er will irgendwann seine ganz eigene Küchen-Handschrift kreieren. „Das wollen alle. Die meisten bleiben irgendwo auf der Reise hängen.“ Für den Moment ist er zufrieden. Im letzten Januar war er in Wien zum Praktikum bei Paul Ivic, dem Weltstar der vegetarischen Küche. Ende des Jahres hat er sich ein paar Wochen lang in Neuseeland umgesehen. „Wenn ich zurückkomme, fehlt es mir hier an nichts. Ich bin ein glücklicher Mensch.“ Text: Axel Krüger Foto: Paul Glaser Auf der Überholspur: Thomas Scholz hat in seiner Oberlausitzer Heimat einen traditionellen Metallbetrieb in Oderwitz übernommen und sich mit Metallwinkeln auf dem Weltmarkt positioniert. Weltweit gefragt: Befestigungselemente für Gitterroste Unspektakulär wirkt das Stück gebogene Metall auf der Handfläche von Thomas Scholz. Doch für den Geschäftsführer der Arno Hentschel GmbH in Oderwitz verbindet dieser Winkel die Welt. „Unsere Produkte finden sie unter anderem auf Offshore-Bohrinseln im Meer, Feuertreppen, auf Aussichtsplattformen in den Bergen, im DHL-Zentrum in Leipzig, im Hafen in Seattle und auf fast jeder Autobahntoilette. Im besten Fall treten Sie uns mit den Füßen“, sagt er. Vor drei Jahren hat der 40-Jährige den Betrieb im Oberlausitzer Dorf mit gut 5000 Einwohnern übernommen. Heute liefert sein Unternehmen Gitterrostbefestigungen in die EU, nach Nordamerika und Asien. Thomas Scholz legt den Metallwinkel wieder zurück in eine Kiste, die auf ihren Abtransport wartet. Das Lager ist Teil eines Dreiseithofes, draußen rauscht die B96 vorbei. „Sie wird nicht nur von der Bautzener Band Silbermond besungen, sondern sichert uns hier im Osten den Anschluss an die weite Welt“, sagt der Geschäftsführer. Hier, mitten im Ort, beginnt die Erfolgsgeschichte des Umformtechnikunternehmens. Sie beginnt vor 75 Jahren - durch Zufall erfährt 1943 der Dresdner Arno Hentschel, dass die Klempnerei Fuchs in Oberoderwitz einen Nachfolger sucht. Sein erstes Geld verdient der Kriegsverletzte mit der Produktion von Gülleschöpfern, Gießkannen und Eimern. Doch der Unternehmensgründer erweitert bald seine Geschäftsfelder. Der Weg nach Dresden ist ihm zu weit, um seine Waren emaillieren zu lassen. „Also baut Arno Hentschel in den 1950er Jahren die erste Feuerverzinkerei in Ostsachsen, um Einkochtöpfe für die Firma Weck herzustellen“, sagt Thomas Scholz. Um diese wieder nach Berlin zu bringen, kauft er einen Eisenbahnwaggon. Selbstverständlich wird er mit dem Schriftzug „Arno Hentschel“ versehen. Innovativ ist der Wahl-Oberlausitzer auch bei der Suche nach immer neuen Geschäftsfeldern. In den 1960er Jahren meldet er das einzige Patent für die Produktion von Dach- und Gitterrosten in der DDR an. Der Privatbetrieb wird 1972 schließlich verstaatlicht. Der alte Chef bleibt der neue Chef im VEB Blechwaren. Mit Stolz erzählt Thomas Scholz über die Anfänge des Unternehmens. Der Wirtschaftsingenieur wird in Zittau geboren und studiert an der dortigen Hochschule. Schon während seines Studiums zieht es ihn immer wieder in die weite Welt. Er arbeitet in Hongkong, Holland und London und bringt unter anderem ein neues Modell von Rolls Roys mit auf den Weg. Fünf Jahre ist er in der Automobilzulieferindustrie tätig und stellt fest, dass er das Tempo auf der Überholspur nicht mehr will. „Immer häufiger habe ich damals gedacht: Wie komme ich zurück nach Sachsen? Mein Ziel war, meine persönliche Gestaltungsfreiheit zu finden“, erinnert sich der Familienvater. Der heutige Geschäftsführer hört sich um bei Besuchen in der Heimat, nimmt Kontakt zur IHK und der Wirtschaftsförderung im Landkreis Görlitz auf. Bei einem dieser Gespräche gibt es den Tipp mit der Arno Hentschel GmbH. Gesucht werde ein regional verbundener Nachfolger für den 1990 reprivatisierten Betrieb. Der einstige Firmengründer übernahm damals noch einmal die Verantwortung und übergab die Geschäftsführung später an zwei langjährige Mitarbeiter, die kurz vor dem Rentenalter standen. Im Oktober 2014 schaut sich Thomas Scholz den Betrieb, der sich auf drei Standorte im Dorf verteilt, an. Zwei Welten prallen an dem Tag aufeinander. Er kommt quasi aus einem hochpolierten Reinraum und trifft auf traditionelles Handwerk im Umgebindehaus. Der Perspektivwechsel reizt den Jung-Unternehmer, 2015 tritt er die Unternehmensnachfolge an. „Von Tag 1 an galt: Traditionelle Strukturen auf neue Herausforderungen, wie die Digitalisierung, umzubauen. Das fängt damit an, dass wir nicht mehr die Aufträge aus der Verwaltung mitten im Dorf statt mit dem Auto per Mail zum Produktionsstandort bringen“, sagt Thomas Scholz schmunzelnd. Mit seinem Arbeitsantritt geht auch ein Generationswechsel innerhalb der Belegschaft einher. Waren die Mitarbeiter damals im Schnitt 52 Jahre, sind sie heute durchschnittlich 39 Jahre alt. Geblieben ist indes das Engagement für die Arno-Hentschel-Stiftung, die unter dem Dach des Diakoniewerks Oberlausitz geistig- und körperlich behinderte Menschen unterstützt. Bei der Neuaufstellung des Unternehmens wagt der Wirtschaftsingenieur weitere neue Wege. So trennt er sich zum Beispiel von der Produktion der Dach- und Gitterroste. „Das können andere besser und schneller. Zudem sind sie ja unsere Kunden bei den Gitterrostbefestigungen“, sagt er. Stattdessen fokussiert er sich auf die Verbindungselemente - 100 Grundtypen in mehr als 100 Varianten aus Stahl oder Edelstahl. 70 Prozent seines weltweiten Umsatzes macht der Mittelständler mit den unspektakulären Winkeln. Anfragen kommen nach seinen Angaben aus Südkorea genauso wie dem arabischen Raum, den USA oder von Unternehmen um die Ecke. Den Erfolg erklärt sich der Unternehmensnachfolger mit der Produktvielfalt, der schnellen Fertigungszeit und der projektbezogenen Beratung und Lieferung – egal ob mit 20 oder 100 000 dieser Metallklammern. Seinen Kunden in aller Welt erzählt Thomas Scholz übrigens, dass er aus der Dreiländerregion Deutschland – Polen – Tschechien kommt. „Das findet – anders als Oderwitz –jeder auf einer Karte“, sagt er. 40 Prozent des Umsatzes akquiriert sein Team außerhalb Deutschlands. 100 Tonnen Stahl verarbeitet die Mannschaft mit 23 Mitarbeitern jeden Monat. Um seine Bauelemente rund um den Globus zu vermarkten, tragen die Produkte nun den internationalisierten Namen „Arnell“. Zum Portfolio des Unternehmens gehören neben dem winkeligen „Nischenprodukt“ der Werkzeugbau sowie die Produktion von Stanz- und Biegeteilen. Ein Forschungsingenieur kümmert sich zudem um das Thema 3-D-Metalldruck und damit um die Zukunft des Oderwitzer Traditionsbetriebs. Mit dem schlichten Metallwinkel hat sich Thomas Scholz‘ Welt verändert. „Ich habe hier eine Chance, in dieser Region etwas zu gestalten. Wir probieren was, werden Fehler machen. Wohin unser Weg führt, kann ich noch gar nicht sagen. Wer will, macht auch“, fasst der Mittelständler seine Unternehmensphilosophie als heimlicher Weltmarktführer zusammen. Etwa 1500 solcher „Hidden Champions“ sind laut einer Studie des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) neben den Konzernen eine weitere Säule der deutschen Wirtschaft. Sie kommen aus dem Maschinenbau, der Elektronik- und Kunststoffindustrie, der Medizintechnik, Metallwarenherstellung sowie Chemie. Einige davon sind auch an der Neiße im Osten Sachsens zu Hause – wie die Arno Hentschel GmbH in Oderwitz, deren Gitterrostbefestigungen im besten Fall mit den Füßen getreten werden. Text: Miriam Schönbach | Fotos: Ingo Goschütz